o Breathe - Tour Maubergeon, 2019, site-specific installation with mirror panels. Installation view at Tour Maubergeon, 2019. Courtesy of the City of Poitiers and Kimsooja Studio. Photos by Jan Liegois.

KIMSOOJA, SCHAUENDES DENKEN

Doris von Drathen, 2020

Zweimal in ihrem 37-jährigen Werk hat sich die südkoreanische Künstlerin auf ihr persönliches Leben bezogen. Im Herbst 2019 stellt Kimsooja einen 6 mal 2,4 mal 2,6 Meter großen Container auf den Platz vor die Kathedrale von Poitiers (s. Kunstforum Nr. 265) und markiert damit ihren Abschied von New York, wo sie, seit den ersten Stipendien bis heute, fast 30 Jahre gelebt hatte. Ein radikaler Wendepunkt, denn seither pendelt Kimsooja zwischen Seoul und Paris, wo sie sich vielleicht in der Zukunft niederlassen wird, auch wenn sie längst im Unterwegssein zuhause ist. Der Container aber birgt nicht nur ihre Umzugskisten, sondern auch ihre künstlerische Weltsicht: Gelb, Rot, Blau, Weiß, Schwarz, Gelb, Rot, Blau … skandieren die leuchtenden Streifen auf seinen Wänden die alte koreanische Tradition eines Farbkosmos, der bis heute das analogische Denken der Künstlerin prägt: So entspricht Blau dem Holz, Rot dem Feuer, Gelb dem Erdmittelpunkt, Weiß dem Metall und Schwarz dem Wasser; die fünf Elemente finden ihr Pendant in den fünf Himmelsrichtungen und Jahreszeiten, die ihrerseits um ein Zentrum kreisen. Wie das Farbspektrum lebendig wird im Sonnenlicht, so erwacht der Kosmos im universalen Atemstrom zu beständiger Wandlung und Bewegung. Ein webender Austausch verbindet alle Elemente, Zeiten, Winde und Wesen zu unaufhörlich neuen Analogiereihen. Der Container hat den Titel „Bottari 1999 – 2019“ und holt damit den zweiten ebenso radikalen Wendepunkt ins Gedächtnis: Zur Biennale von Venedig 1999, stellt Kimsooja in Harald Szeemanns d’Apertutto ihren blauen „Bottari Truck in Exile“ vor eine Raum öffnende Spiegelwand. Das Vehikel ist Zeitzeuge ihrer Abschiedsreise von Korea, als ihr fester Wohnsitz in New York entschieden war. In elf Tagen hatte sie 2.727 Kilometer zurückgelegt und in den Orten ihrer Erinnerung die Einwohner um ausgediente Kleider und Bettüberwürfe gebeten. Gefaltet, eingewickelt, an den Stoffenden zusammengeknotet, so entstanden die traditionellen Reisebündel, die seidigen, farbenreichen „Bottaris“, die bald zum Leitmotiv ihrer Arbeit werden sollten. Zwischen den anwachsenden Bergen von Bottaris auf der offenen Ladefläche des Lasters sitzend fuhr sie über Bergpässe und Feldwege: „Cities on the Move – 2.727 Kilometers Bottari Truck“ hieß diese erste gefilmte Performance.

Als Artist in Residence am PS1, hatte die Künstlerin 1992 in ihrem New Yorker Atelier zum ersten Mal den skulpturalen Aspekt ihrer eigenen Reisebündel gesehen. Von jeher war sie an die Gestik gewöhnt, Kleider, Hausrat, Bücher mit den Bettüberwürfen, die traditionell in jede Familie gehörten, zusammenzubinden. Auf diesen Tüchern, den kunstvoll gewirkten Ybulbos, wurde geruht, geliebt, geschlafen, darin wurden Säuglinge auf den Rücken gebunden und getragen, Kranke und Tote transportiert. Die Funktionen der Ybulbos beschreiben also einen Existenzbogen. 1994 hatte die Künstlerin in Korea ihre erste Installation photographiert: Bottaris auf der Türschwelle eines verlassenen Hauses, im südkoreanischen Dorf Yangdong, der Umgebung von Gyeongju. Die leuchtend farbigen, kunstvoll gewirkten Bottaris als Spuren von Angst, Hast und Flucht vor diktatorischer Unterdrückung. Dieser politische Hintergrund prägt die Bilder der Performance-Reise, „Cities on the Move – 2.727 Kilometers Bottari Truck“. Die Gesten des Zusammenfaltens, Bündelns, Knotens hatten den Rhythmus dieser Zeitreise bestimmt. Als Bottari der Gegenwart hatte die Künstlerin sich selbst verstanden, die auf ihrer Reise in die Zukunft versucht, Spuren der Vergangenheit zu sammeln. Denn die ausgedienten Kleider und Bettüberwürfe mit ihren Gerüchen und eingeprägten Gesten sind für Kimsooja vor allem dies: Erinnerungsvehikel menschlicher Gegenwart. Ähnlich wie Photographien bezeugen sie vergangenes Leben.

In diesem Sinn hatte Kimsooja im Jahr 1995, zum 15. Jahrestag des Massakers von Gwangju, auch hier abgelegte Kleidung und Bett-Tücher gesammelt. Die südkoreanische Stadt war weltweit bekannt geworden durch den von Studenten angeführten, massiven Aufstand der demokratischen Bewegung, die vom Militärregime im Mai 1980 brutal niedergeschlagen worden war. Kimsooja baut kein Monument. „Sewing into Walking“ heißt ihre Performance: Die Künstlerin schleppt Bottari um Bottari in den Wald des Massenfriedhofs, und deckt im langsamen Gehen die alten Kleider und Ybulbos über die Erde, als müßte sie heilend gewärmt werden, als müßte den Toten, die Umarmung ihrer Nachbarn nachgetragen werden. So näht Kimsooja tatsächlich die Vergangenheit in die Gegenwart, näht Zeiträume, Entstehen und Vergehen zusammen. Auf ihrem Weg, in ihrem „Walking“, tritt sie zum ersten Mal als verkörperte Nadel auf, die in ihrer Vertikalität die horizontale Kleiderschicht mit der Erde verbindet.

In dieser Künstlerauffassung eines konzeptuellen Nähens, hatte sie 1984 in Seoul, nach ihrem Studium der Malerei, die Arbeit „The Earth and the Heaven“ aus Seidenresten zusammengenäht, ein Achsenkreuz aus den Farbfeldern der fünf Elemente. Was sie daran interessierte, war die Gestik an der Grenze, die Nadelbewegung selbst, in ihrem verbindenden Durchqueren unterer und oberer Schichten, die Kimsooja wie selbstverständlich auf die Zeit, den Raum und das Universum bezieht. Die Bewegung der Hände, wenn sie die vier Stoffzipfel der farbenreichen Bett-Tücher unter- und übereinander führen und einen Knoten festzurren, ist der nähenden Geste vergleichbar. Wenn aus dem Falten und Bündeln des Tuches nun eine kugelförmige Dreidimensionalität entsteht, erscheint es für Kimsooja wiederum selbstverständlich, darin eine Welt zu sehen. Damit nähert sie sich, so könnte man es sehen, über ihr experimentell künstlerisches Tun, einem Mathematiker und Philosophen der europäischen frühen Aufklärung: Leibniz war aus dem spirituell-körperlichen Doppelcharakter des Tuches und dessen Faltungen, die er eingehend betrachtet hatte, die Einsicht hergeleitet, das gesamte Universum sei ein einziger kontinuierlicher, sich wandelnder Körper, der verschiedene Gestalten annimmt. Die Möglichkeit dieser Parallele zeigt die transkulturelle Dimension, die Kimsoojas Weltsicht öffnet.

In einer Reihe von Performances zwischen 1999 und 2005 erweitert sie die Logik ihrer Künstlerkonzeption, Nadel zu sein. Als unbewegliche Gestalt im grauen Gewand wird sie in der Rückenansicht für den Zuschauer zum Medium, das vermag, den Atem und die Wahrnehmung zu verlangsamen, den Betrachter hineinzuziehen in verdichtete Situationen des Zeitraums. So sehen wir sie 1999 in Japan, als „A Needle Woman – Kitakyushu“, horizontal auf einem langen, glatten Felsen ausgestreckt; ihr Körper verbindet sich mit der grauen Gesteinsformation, zeichnet die Grenzlinie zwischen Himmel und Erde nach. Der Zuschauer, auf ihren Rücken schauend, atmet wie sie den offenen Himmelsraum und dessen Stille, teilt ihr Erleben. Ein Jahr später steht sie in Indien an der Böschung des Yamuna River; vorübertreibende Verbrennungsreste zeigen sein stetiges Strömen. Kimsooja nennt sich hier „A Laundry Woman – Yamuna River“, schaut in dunstige horizontlose Ferne, weiß, der Fluß wird weiterströmen, auch nach ihrem Lebensende. In folgenden großen Video-Reihen, steht sie im Mittelpunkt von dicht bevölkerten Metropolen, wie Tokio, Mexico City, London oder Kairo. Ihre unbewegliche graue Gestalt erscheint als Seismograph im Zeitstrom der vorüberziehenden Menschenmassen; ein Strom, der kaum innehält, wenn das Gesicht eines Vorübergehenden dem ihren begegnet. In einer zweiten großen Serie bereist sie ebenso als unbeweglicher Zeitzeuge, konzentriert auf ihr physisch gegenwärtiges Sein, die Krisenherde der Zeit, Havanna, Rio de Janeiro, Jerusalem, N’Djamena, Sana’a, Patan und Nepal. Fast einem Kriegsreporter gleich, muß sie in dieser zweiten Performance-Reihe, oftmals um ihr Leben fürchten. Ihre Präsenz bewegt sich also auch hier an einer Grenze. Die Identifikation mit der physischen Zeugenschaft der Künstlerin, mag im Betrachter eine neue Aufmerksamkeit für das Weltgeschehen wecken. Die Video-Installation der zweiten Reihen war 2005 in Aperto zu sehen.

Vom Phänomen der Nadelbewegung, vom Prinzip ihres Verbindens verschiedener Raum- und Zeitschichten ausgehend, entwickelt Kimsooja von nun an erweiterte Bildkonzeptionen, indem sie das Phänomen des Spiegels, das schon angeklungen war, zum Thema macht. Denn auch der Spiegel führt verschiedene Raumschichten zusammen. Wie die Nadel bleibt der Spiegel unsichtbar, erschafft Bilder und verschwindet mit ihnen. Wie die Nadel markiert der Spiegel eine Grenze des Raums. Auch sein Auftritt bezeichnet eine Grenze der Zeit, den haarscharfen Augenblick, wenn Zeit erst geschieht. Im Palacio de Cristales in Madrid verband Kimsooja dieses Agieren des Spiegels mit ihrem ruhigen Atemgeräusch. „To breathe – A Mirror Woman“ hieß die Arbeit, im Jahr 2006: Einer lebendigen Bestimmungsgröße des Raums gleich, so steht sie als zierliche schwarze Gestalt auf einem grenzauflösenden Spiegelboden, inmitten von hohen, funkelnden Glaswänden, die mit einem optischen Prisma beschichtet sind. Kein Halt nirgends: Unter den Füßen werden die Glaskuppeln zum schwankenden Abgrund, der Körper schwebt im Raum, dessen Grenzen zerstieben in einem Feuerwerk der Spektralfarben. Atmender, Licht durchpulster Raum. Damit öffnet Kimsooja ihre Performance für den Betrachter, der hier nun selbst die Bewegungen von Raum und Zeit ausloten kann.

Das ist der Absprung für die Künstlerin in eine bis dahin nicht gekannte Freiheit, die Welt aus dem Blickwinkel des Ein- und Ausfaltens von Stoffbahnen zu verstehen: Kimsooja findet ihre Bilder auf der Straße und in der Natur. So beobachtet sie die Wäscher in den Armenvierteln von Mumbai: die daraus entstandene Videoinstallation heißt, „Mumbai: A Laundry Field“, 2007–2008. Die Kamera schafft eine Analogie zwischen Körper und Tuch, wenn die Wäscher ihre harte Arbeit, das Bürsten und Reiben, das Ausspülen, Wringen und Ausschlagen der hoch auffliegenden, spritzenden Stoffe unterbrechen und sich selbst unter den Wasserschlauch stellen. Daneben Bilder von der alten Gleichung Habitat und Habit, wenn Obdachlose ihren Schlafplatz auf der Straße und sich selbst mit Tüchern schützen.

Die seltenen Weltgegenden, die von menschlicher Zerstörung noch bewahrt sind, sind das Thema in einer Folge von acht Filmen, die das unaufhörliche Verwandeln im Austauschtanz der Elemente beobachtet: „Earth-Water-Fire-Air“, 2009 – 2010. Achtmal zeigt die Kamera deren fließende Interdependenz: Das innere Feuer der Erde und seine rotglühende Lava erstarren zu schwarzen, noch weiterglühenden Gesteinsflammen; das Feuer kann ohne die Luft nicht sein; eine Wasseroberfläche gleicht Bodenwellen; eine Meereswelle schlägt meterhoch gegen einen Felsen, während ihre im Sonnenlicht aufwehende Gischt das Feuerwerk der Spektralfarben entfacht – unmögliche, alltägliche Verbindung von Feuer und Wasser. Was Kimsooja zeigt, ist das haarscharf austarierte Zusammenwirken der Elemente und ihrer Kräfte, deren Wandlungen ohne unser Zutun beständig neue Bilder erzeugt, an der Zeitgrenze des Augenblicks. Kimsooja zeigt die andere Seite: Als gelte es für den Betrachter ein Atemreservoir zu schaffen, trägt sie unermüdlich Bilder zusammen aus einer weiterlebenden Harmonie. Ihr Künstlercredo heißt verbinden, heilen, weben, statt trennen, zerreißen und verwerfen. „Thread-Routes“ ist der Titel ihrer bis heute weitergeführten Folge, die 2010 begann, und bisher sechs abgeschlossene Filme umfaßt: Quer durch die Welt folgt die Künstlerin hier den selten gewordenen Spinnerinnen, Weberinnen, Klöpplerinnen, Gerbern und Stoffdruckern mit der Kamera. Auf den Gebirgspfaden des Altiplano von Peru beobachtet sie, wie alteingeübte Hände Schafswolle zu Fäden zwirbeln, im Gehen, die Spindel kreiseln lassen, irgendwo unterwegs einen Haken in die Erde schlagen, Fäden spannen und ihr Weben beginnen. Der Wiederholungstanz uralter Gesten beseelt von Afrika bis Kroatien diese Filme, deren Bilder immer wieder das Weben des Windes, der Wolken, des Lichts und der Schatten verbinden mit den fabrizierenden Händen und ihren Fadenwegen. Die Akteure sind in jedem Filmabspann mit Namen aufgeführt, oftmals zusammengenähte Namen aus den ursprünglichen und später aufgezwungenen Kulturen. Vier dieser Filme waren im Herbst 2019 in Poitiers zu sehen. Nichts ist nostalgisch; die Bilder leben aus dem dokumentierten Tun heraus.

Nichts manipulieren, nichts hinzufügen, das ist ihr Schaffensprinzip. Kimsooja, die ihre Arbeit aus ihrer pragmatischen Beobachtung entwickelt, anerkennt nur ein Künstlervorbild: John Cage. Kurz nach ihrem Studium hatte sie 1985 zur Biennale von Paris dessen weißen Container gesehen. Im Innenraum seiner Leere und Stille war an der Wand ein einziger Satz zu lesen: „Whether you try to make it or not, the sound is heard“. Diese Worte haben die Künstlerin seither begleitet und bestärkt in ihrer Künstlerhaltung eines „Non-Making“, in ihrer Überzeugung, keine Gegenstände herzustellen. Bis heute ist sie davon nicht abgerückt. Während ihrer Ausstellung in Poitiers, im Herbst 2019, sind die Besucher aufgefordert, an einem „Archive of Mind“ mitzuwirken. Im Palais der Ducs d’Aquitaine steht, wie zuvor im Museum für zeitgenössische Kunst in Seoul, der große ovale Holztisch mit seinen Schemeln. Die Gäste bedienen sich aus großen Lehmklumpen, setzen sich an den Tisch, drehen ihre Handvoll Lehm zu einer Kugel und hinterlassen sie dort. Die Stille öffnet das Gehör für ein leises auf- und absteigendes Wassergurgeln, ein vertikales Echo auf die horizontalen Kreisbahnen am Tisch. Es dauert, bis eine Kugel sich formt. Die Wiederholungsgeste wird zum Alltagsfilter. Das Freigeben eines eigenen Bottari öffnet einen anderen Denkraum. Sich beteiligen, ohne zu besitzen, ohne zu besetzen.

Diese Logik wird einen Kreis schließen, wenn Kimsooja im Verlauf von 2020 im Park der schwedischen Wanås Foundation, Leinen aussäen, seine blau blühenden Felder, seine Ernte und schließlich das Fadenspinnen und Weben von groben Leinwänden beobachten wird. Keine Objekte, keine Bilder. Auch nicht im Dezember 2020, wenn sie in der Kathedrale von Metz ein Fenster aus dichroitischem Glas herstellen wird: eigentlicher Autor werden die Farbbrechungen des Lichts sein. Was sie erschafft, sind Seherfahrungen, mit Leibniz gesagt, ein schauendes Denken.


— Kunstforum, Bd.267, May 2020